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Urteilskopf

149 II 1


1. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Amt für Inneres, Abteilung Migration des Kantons Appenzell Ausserrhoden und Departement Inneres und Sichercheit des Kantons Appenzell Ausserrhoden (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_60/2022 vom 27. Dezember 2022

Regeste

Art. 43 Abs. 1 lit. c und e, Art. 44 Abs. 1 lit. c und e, Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG; Rechtmässigkeit des Widerrufs einer Niederlassungsbewilligung, wenn Ergänzungsleistungen zur AHV/IV bezogen werden.
Bezüglich der Frage, ob Sozialhilfeabhängigkeit im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG besteht, ist auf den Zeitpunkt des angefochtenen Urteils abzustellen. Wird in diesem Zeitpunkt keine Sozialhilfe mehr bezogen, sondern Ergänzungsleistungen, ist der Widerrufsgrund nicht mehr erfüllt (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 2

BGE 149 II 1 S. 2

A. A. (geboren 1958), spanischer Staatsangehöriger, reiste am 13. März 1993 zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in die Schweiz ein und erhielt am 18. November 1993 die Niederlassungsbewilligung. Er war während rund fünf Jahren als Hilfsbauarbeiter tätig. Ab 1997 bezog er wegen eines Rückenleidens eine IV-Rente, welche mit Verfügung der IV vom 14. November 2005 per Ende 2005 eingestellt wurde. Von November 2006 bis März 2021 wurde A. im Umfang von Fr. 288'723.30 mittels Sozialhilfe unterstützt. Seit dem 1. April 2021 bezieht er infolge Frühpensionierung eine AHV-Rente und Ergänzungsleistungen und ist von der Sozialhilfe abgelöst.

B. Mit Verfügung vom 8. April 2020 widerrief die Abteilung Migration des Kantons Appenzell Ausserrhoden (Abteilung Migration) die Niederlassungsbewilligung von A. und ordnete seine Wegweisung aus der Schweiz an. Letzterer war zuvor nicht ausländerrechtlich verwarnt worden. Die gegen die genannte Verfügung erhobenen Rechtsmittel wurden abgewiesen (Rekursentscheid des Departements Inneres und Sicherheit des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 19. August 2020; Urteil des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden, 4. Abteilung, vom 25. November 2021).

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht vom 17. Januar 2022 beantragt A. (Beschwerdeführer) dem Bundesgericht die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils. Vom Widerruf der Niederlassungsbewilligung sei abzusehen (...).
(...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt das vorinstanzliche Urteil auf und ordnet die Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung an.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4.

4.1 Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG (SR 142.20) kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die ausländische Person dauerhaft und in erheblichem Masse auf Sozialhilfe angewiesen ist.

4.2 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG. Er macht geltend, der Bezug von Ergänzungsleistungen stelle keinen Widerrufsgrund dar. Bereits zum Zeitpunkt des Widerrufs am 8. April 2020 habe festgestanden, dass er ab März (recte:
BGE 149 II 1 S. 3
April) 2021 eine AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen beziehen werde und sich von der Sozialhilfe werde lösen können. Im Zeitpunkt des Widerrufs habe deshalb keine Dauerhaftigkeit des Sozialhilfebezugs mehr bestanden. Die Voraussetzungen des Widerrufs seien im Widerrufszeitpunkt nicht erfüllt gewesen.

4.3 Die Vorinstanz hat mit Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung erwogen, Ergänzungsleistungen stellten zwar keine Sozialhilfe im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG dar. Der Bezug von Ergänzungsleistungen könne jedoch bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit des Widerrufs berücksichtigt werden. Ausserdem lasse selbst eine absehbare oder bereits erfolgte Loslösung von der Sozialhilfe durch eine Frühpensionierung den einmal gesetzten Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit nicht entfallen, wenn die betroffene ausländische Person danach auf Ergänzungsleistungen angewiesen sei.

4.4 Dauerhafte und erhebliche Sozialhilfeabhängigkeit im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG setzt rechtsprechungsgemäss die konkrete Gefahr einer andauernden und erheblichen Sozialhilfeabhängigkeit voraus; blosse finanzielle Bedenken genügen nicht (vgl. Urteile 2C_458/2019 vom 27. September 2019 E. 3.2; 2C_98/ 2018 vom 7. November 2018 E. 4.1). Neben den bisherigen und den aktuellen Verhältnissen ist auch die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung auf längere Sicht abzuwägen. Ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung fällt in Betracht, wenn eine Person hohe finanzielle Unterstützungsleistungen erhalten hat und nicht damit gerechnet werden kann, dass sie in Zukunft selber für ihren Lebensunterhalt wird sorgen können (Urteile 2C_181/2022 vom 15. August 2022 E. 6.1; 2C_592/ 2020 vom 28. April 2022 E. 5.1; 2C_458/2019 vom 27. September 2019 E. 3.2; je mit Hinweisen).

4.5 Gemäss gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung fallen Ergänzungsleistungen zur AHV/IV nicht unter den Begriff der Sozialhilfe. An diesem vom Gesetzgeber bereits unter dem ANAG (Bundesgesetz vom 26. Mai 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer) getroffenen Entscheid wurde auch im Rahmen des AuG respektive des AIG festgehalten (vgl. dazu ausführlich Urteil 2C_448/2007 vom 20. Februar 2008 E. 3.4 f. betreffend ANAG und AuG; BGE 141 II 401 E. 5.1, in: Pra 2016 Nr. 59 S. 563 ff.; BGE 135 II 265 E. 3.7; statt vieler Urteile 2C_309/2021 vom 5. Oktober 2021 E. 5.1; 2C_562/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.1). Der
BGE 149 II 1 S. 4
Gesetzgeber unterscheidet denn auch in Art. 43 Abs. 1 lit. c und e und Art. 44 Abs. 1 lit. c und e AIG zwischen Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen (vgl. dazu weiter unten). Zwar bestehen zwischen Ergänzungsleistungen zur AHV/IV und der Sozialhilfe gewisse Ähnlichkeiten, da beide Leistungen die Bedürftigkeit des Ansprechers voraussetzen und die öffentliche Hand belasten. Die Sozialhilfe ist jedoch gegenüber den Ergänzungsleistungen subsidiärer Natur und dient der Überbrückung von Notlagen, während Letztere ein längere Zeit fliessendes Ergänzungs- oder Mindesteinkommen darstellen (BGE 141 II 401 E. 5.1 und 6.2.4, in: Pra 2016 Nr. 59 S. 563 ff.; Urteil 2C_309/2021 vom 5. Oktober 2021 E. 5.1).
Der Gesetzgeber hat zwar das vorgenannte Urteil 2C_448/2007 vom 20. Februar 2008 zum Anlass genommen, den aktuellen oder drohenden Bezug von Ergänzungsleistungen mit Geltung ab 1. Januar 2019 als zusätzlichen Hinderungsgrund für den Familiennachzug einzuführen (vgl. Art. 43 Abs. 1 lit. e sowie Art. 44 Abs. 1 lit. e AIG; AS 2017 6521, AS 2018 3171). Ebenso steht der Bezug von Ergänzungsleistungen einem Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit gemäss Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA (SR 0.142.112.681) entgegen (BGE 135 II 265 E. 3.7; Urteile 2C_168/2021 vom 23. November 2021 E. 4.3.3; 2C_914/2020 vom 11. März 2021 E. 5.10). Ausserdem wurde auf den gleichen Zeitpunkt Art. 63 Abs. 2 AuG (wonach die Niederlassungsbewilligung von ausländischen Personen, welche sich seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz aufhalten, nicht wegen dauerhafter und erheblicher Sozialhilfeabhängigkeit widerrufen werden kann), gestrichen (vgl. AS 2007 5437 ff., 5455 f., AS 2017 6521, AS 2018 3171). Der Gesetzgeber hat jedoch, wie sich aus der entsprechenden bundesrätlichen Botschaft ergibt, gerade keinen Widerrufsgrund des Bezugs von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV eingeführt, sondern den (möglichen) Bezug von bundesrechtlichen Ergänzungsleistungen (lediglich) beim Familiennachzug sanktioniert (vgl. oben). Es ging ausdrücklich darum, auch bei ausländischen Personen mit langjähriger Anwesenheit den Widerruf der Niederlassungsbewilligung wegen (dauerhafter und erheblicher) Sozialhilfeabhängigkeit zu ermöglichen bzw. diesbezüglich mehr Handlungsspielraum für die Behörden zu schaffen. Dieser Handlungsspielraum wurde jedoch gerade nicht auf den (möglichen) Bezug von Ergänzungsleistungen ausgedehnt (vgl. Zusatzbotschaft vom 4. März 2016 zur Änderung des Ausländergesetzes [Integration], BBl 2016 2821 ff., 2827 ff., 2837, 2840 ff.; Umsetzung der parlamentarischen
BGE 149 II 1 S. 5
Initiativen von Philipp Müller, Nr. 08.428 [Kein Familiennachzug bei Bezug von Ergänzungsleistungen], und Nr. 08.450 [Mehr Handlungsspielraum für die Behörden; die Niederlassungsbewilligung soll bei einer dauerhaften und erheblichen Sozialhilfeabhgängigkeit auch nach einem Aufenthalt von mehr als 15 Jahren widerrufen werden können]).
Der Bezug von Ergänzungsleistungen stellt somit keinen Widerrufsgrund im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG dar (vgl. BGE 141 II 401 E. 6.2.3; BGE 135 II 265 E. 3.7; Urteile 2C_158/2021 vom 3. Dezember 2021 E. 6.2.2; 2C_98/2018 vom 7. November 2018 E. 4.4; 2C_1018/ 2016 vom 22. Mai 2017 E. 3.1; 2C_562/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.1).

4.6 Allerdings entfällt der zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils bestehende Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit nicht, wenn die betroffene Person zukünftig infolge Pensionierung oder Frühpensionierung eine AHV-Rente beziehen und aufgrund der geringen Rente auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein wird. Die betroffene Person, welche zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils den Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit erfüllt, kann sich mit anderen Worten nicht darauf berufen, dass sie in Zukunft pensioniert (bzw. frühpensioniert) wird und der Sozialhilfebezug dannzumal durch Ergänzungsleistungen abgelöst werden wird (dazu auch E. 4.7 nachfolgend). Die künftigen Ergänzungsleistungen belasten nämlich die öffentlichen Finanzen, was bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit des Widerrufs zu berücksichtigen ist (Urteile 2C_158/ 2021 vom 3. Dezember 2021 E. 6.2.2; 2C_83/2018 vom 1. Februar 2019 E. 4.2.4; 2C_98/2018 vom 7. November 2018 E. 4.4; 2C_562/ 2016 vom 14. Dezember 2016 E. 3.1.2).

4.7 Vorliegend verhält es sich jedoch anders: Zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils, welches vor Bundesgericht Anfechtungsgegenstand bildet (sog. Devolutiveffekt, vgl. BGE 139 II 404 E. 2.5; BGE 136 II 539 E. 1.2) und auf dessen Sachverhalt abgestellt wird (Art. 105 Abs. 1 BGG), bezog der Beschwerdeführer keine Sozialhilfe mehr, sondern seit rund acht Monaten bereits eine AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen. Der Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG bestand demnach zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils nicht mehr. Entgegen der Vorinstanz stellt die zitierte bundesgerichtliche Rechtsprechung, auch das Urteil 2C_83/2018 vom 1. Februar 2019, darauf ab, dass im Zeitpunkt
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des angefochtenen Urteils die konkrete Gefahr der Sozialhilfeabhängigkeit noch andauert (vgl. E. 4.4 oben), sprich die Sozialhilfeabhängigkeit noch besteht, und sei es auch nur für eine überschaubare Zeitspanne. Die entsprechende Gefahr besteht jedoch nicht mehr, wenn die betroffene Person zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils bereits seit Monaten eine AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen bezieht. Andernfalls würde der Bezug von Ergänzungsleistungen einen Widerrufsgrund bilden, was gerade nicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht (vgl. E. 4.4 oben). Wenn zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils die Sozialhilfeabhängigkeit nicht mehr besteht, kann nicht rückwirkend an eine in der Vergangenheit vorhandene, aber mittlerweile abgeschlossene Sozialhilfeabhängigkeit angeknüpft werden.

4.8 Die Rüge der Verletzung von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG erweist sich nach dem Gesagten als berechtigt, weshalb die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gutzuheissen ist.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 4

Referenzen

BGE: 141 II 401, 135 II 265, 139 II 404, 136 II 539

Artikel: Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG, Art. 44 Abs. 1 lit. c und e AIG, Art. 43 Abs. 1 lit. e sowie Art. 44 Abs. 1 lit. e AIG, Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA mehr...