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Urteilskopf

111 IV 45


12. Urteil der Anklagekammer vom 18. Februar 1985 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau

Regeste

Art. 264 BStP, Art. 351 StGB; Bestimmung des Gerichtsstandes.
Die Anklagekammer des Bundesgerichtes kann nur angerufen werden, solange der Täter wegen der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen verfolgt wird; das ist erst dann nicht mehr der Fall, wenn über den Schuld- und den Strafpunkt entschieden und damit das Verfahren mindestens vor einer Instanz abgeschlossen ist. (In casu hatte die Kriminalkammer des Kantons Thurgau beschlossen, den Fall auszusetzen und die Staatsanwaltschaft zur Einholung eines psychiatrischen Gutachtens einzuladen.)

Sachverhalt ab Seite 45

BGE 111 IV 45 S. 45

A.- X. und Y. werden beschuldigt, in der Zeit von Mitte August bis 12. Oktober 1984 im Kanton Graubünden teils zusammen, teils allein, teils unter Beteiligung einer Drittperson einen Diebstahl, eine Sachbeschädigung, einen Hausfriedensbruch, eine Entwendung eines Motorfahrzeugs zum Gebrauch, eine Fahrt in angetrunkenem Zustand, eine Begünstigung und eine Veruntreuung begangen zu haben. Die Untersuchung wurde von den Bündner Behörden am 11. Oktober 1984 eröffnet.
BGE 111 IV 45 S. 46
Zuvor hatten die Behörden des Kantons Thurgau die Verfolgung des X. wegen zahlreicher Delikte, namentlich wegen Einbruchdiebstählen, übernommen, die jener teils allein, teils zusammen mit Z. in den Jahren 1983 und 1984 begangen hatte. Am 13. Juli 1984 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau gegen die beiden Anklage, und am 14. November 1984 fällte die Kriminalkammer des Kantons Thurgau bezüglich Z. ein Strafurteil, während sie bezüglich X. beschloss, die Staatsanwaltschaft einzuladen, über den Angeklagten "ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, das sich namentlich zur Frage der Zurechnungsfähigkeit und Erziehbarkeit zur Arbeit aussprechen muss".

B.- Nachdem die Bündner Behörden erfolglos versucht hatten, die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau zur Übernahme des im Kanton Graubünden gegen X. und Y. angehobenen Verfahrens zu bewegen, gelangte die Staatsanwaltschaft dieses Kantons an die Anklagekammer des Bundesgerichts mit dem Begehren, es sei der Gerichtsstand für die Verfolgung und Beurteilung aller X. und Y. zur Last fallenden Delikte im Kanton Thurgau festzulegen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, es sei für die weitere Durchführung des im Kanton Graubünden gegen X. und Y. angehobenen Verfahrens die Zuständigkeit der Bündner Behörden gegeben.

Erwägungen

Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

1. Dass - wie die Gesuchstellerin geltend macht - in Anwendung von Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 und 349 StGB X. und Y. im Kanton Thurgau zu verfolgen sind, ist unbestritten. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau vertritt jedoch die Auffassung, es sei im Kanton Thurgau bezüglich X. bereits ein Strafurteil ergangen, auch wenn dieses noch ein unvollständiges sei; in den Erwägungen des Entscheides der Kriminalkammer sei X. nämlich im Sinne der Anklage schuldig gesprochen worden und es sei lediglich noch die Frage der Strafzumessung bzw. der Anordnung einer Massnahme nicht geklärt.

2. Die Anklagekammer des Bundesgerichts kann nur angerufen werden, solange der Täter wegen der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen verfolgt wird. Das ist erst dann nicht mehr der Fall, wenn ein Sachurteil vorliegt (s. BGE 106 IV 159 E. b), mit anderen Worten, wenn über den Schuld- und den Strafpunkt entschieden und damit das Verfahren mindestens vor einer Instanz
BGE 111 IV 45 S. 47
abgeschlossen ist. Das trifft hier nicht zu. Der erwähnte Beschluss der Kriminalkammer stellt keinen solchen Verfahrensabschluss dar. Vielmehr wurde damit das Urteil bezüglich X. ausgesetzt, bis ein Gutachten über dessen Zurechnungsfähigkeit vorliegt und damit über die Sanktion entschieden werden kann. X. muss somit auch hinsichtlich der ihm von den Thurgauer Behörden vorgeworfenen strafbaren Handlungen noch als verfolgt gelten.
Darüber hilft der Einwand der Gesuchsgegnerin nicht hinweg, wonach die Würdigung des in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachtens auf dem Schriftweg geschehe und der abschliessende Entscheid ohne mündliche Verhandlung ergehe. Es wird sich erst aufgrund des Expertenberichts entscheiden lassen, ob in concreto das Verfahren tatsächlich ohne neue Hauptverhandlung wird abgeschlossen werden können; das Gutachten stellt nämlich ein neues Beweismittel dar, mit welchem neue Tatsachen ins Verfahren eingeführt werden können, zu denen der Angeklagte Anspruch auf Stellungnahme hat. Dabei ist nicht schlechtweg ausgeschlossen, dass sich eine Anhörung des Experten als notwendig erweisen könnte. Geht man aber vom Gesagten aus, steht der Übernahme des gegen X. im Kanton Graubünden geführten Verfahrens durch die Behörden des Kantons Thurgau von Gesetzes wegen nichts entgegen.

3. Einem Gesuch um Bestimmung des Gerichtsstandes wird zwar nach der Praxis in der Regel keine Folge gegeben, wenn es erst unmittelbar vor der Aburteilung gestellt wird (BGE 94 IV 47, BGE 87 IV 47). Indessen ist nicht zu übersehen, dass es gerade im vorliegenden Fall von Belang ist, in die Beurteilung des noch minderjährigen X. durch den Psychiater auch das strafbare Verhalten einzubeziehen, dessen jener im Kanton Graubünden beschuldigt wird. Dann aber ist es am Platz, X. auch einer einheitlichen gerichtlichen Beurteilung zu unterwerfen, wie sie für den Regelfall nach Art. 68 und 350 StGB geboten ist. Die Thurgauer Behörden sind deshalb mit der Verfolgung und Beurteilung aller X. zur Last fallenden Delikte zu betrauen mit der Folge, dass sie in Anwendung von Art. 349 StGB auch dessen Mittäter Y. in ihr Verfahren werden einbeziehen müssen.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3

Referenzen

BGE: 106 IV 159, 94 IV 47, 87 IV 47

Artikel: Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 und 349 StGB, Art. 264 BStP, Art. 351 StGB, Art. 68 und 350 StGB