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Urteilskopf

114 V 292


54. Urteil vom 6. Mai 1988 i.S. B. gegen die dem Kantonalverband der Krankenkassen des Kantons X angeschlossenen Krankenkassen und Schiedsgericht des Kantons X

Regeste

Art. 25 Abs. 1 und 4 KUVG, Art. 58 BV: Besetzung des Schiedsgerichts.
- In Art. 25 Abs. 1 KUVG ist der Anspruch auf richtige Besetzung des Gerichts mit eingeschlossen; das Schiedsgericht hat dieselbe Gewähr für Unparteilichkeit zu bieten wie andere staatliche Gerichte. Die Richter des Schiedsgerichts haben deshalb in Ausstand zu treten, wenn sie mit einer Partei in einer Weise verbunden sind, welche die Befürchtung der Befangenheit begründet (Erw. 3b und c).
- Begriff des neutralen Vorsitzenden im Sinne von Art. 25 Abs. 4 KUVG; bei der Beurteilung der Neutralität ist ein strenger Massstab anzulegen (Erw. 3d).

Sachverhalt ab Seite 293

BGE 114 V 292 S. 293

A.- Am 26. Mai 1983 reichte der Kantonalverband der Krankenkassen des Kantons X bei der Paritätischen Vertrauenskommission ein gegen Dr. med. B. gerichtetes Begehren um Rückerstattung von Fr. 131'653.-- wegen unwirtschaftlicher Behandlung ein. Mit Vorschlag vom 17. Oktober 1984 erkannte die Vertrauenskommission, dass die Forderung des Verbandes für das Jahr 1981 im Umfang von Fr. 36'319.-- zu Recht bestehe. Am 1. Februar 1985 erhoben die dem Kantonalverband angeschlossenen Krankenkassen gegen Dr. B. beim Schiedsgericht gemäss Art. 25 KUVG des Kantons X Klage auf Rückerstattung von Fr. 40'354.--.

B.- Das Schiedsgericht hiess die Klage aufgrund von Beratungen vom 1. Mai und 4. Juni 1986 sowie 22. Januar 1987 gut, wobei als Vorsitzender Y amtete.

C.- Dr. B. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, der Entscheid des Schiedsgerichts sei aufzuheben und die Forderung der Krankenkassen abzuweisen. Zur Begründung wurde unter anderem geltend gemacht, der Vorsitzende des Schiedsgerichts sei Mitglied des Leitenden Ausschusses des Konkordats der schweizerischen Krankenkassen, weshalb das Erfordernis der Neutralität nicht erfüllt gewesen sei.
BGE 114 V 292 S. 294
Die Krankenkassen beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst auf Gutheissung und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung unter neutralem Vorsitz. In materieller Hinsicht beantragt es eventualiter ebenfalls Gutheissung. Das Schiedsgericht nimmt zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf deren Abweisung Stellung.

Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. Streitigkeiten zwischen Kassen einerseits und Ärzten, Apothekern, Chiropraktoren, Hebammen, medizinischen Hilfspersonen, Laboratorien oder Heilanstalten anderseits sind durch ein für das ganze Kantonsgebiet zuständiges Schiedsgericht zu entscheiden (Art. 25 Abs. 1 KUVG). Die Kantone bezeichnen das Schiedsgericht und regeln das Verfahren; der schiedsgerichtlichen Behandlung eines Streitfalles hat ein Vermittlungsverfahren vorauszugehen, sofern nicht schon eine vertraglich eingesetzte Schlichtungsinstanz geamtet hat. Das Schiedsgericht setzt sich zusammen aus einem neutralen Vorsitzenden und entsprechend den zu behandelnden Fällen aus je einer Vertretung der Kassen und der Ärzte, Apotheker, Chiropraktoren, Hebammen, medizinischen Hilfspersonen, Laboratorien oder Heilanstalten in gleicher Zahl (Art. 25 Abs. 4 KUVG).

2. a) Der Vorsitzende des Schiedsgerichts gemäss Art. 25 KUVG des Kantons X war in der vorliegenden Streitsache Y. Der Beschwerdeführer wendet hiegegen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erstmals ein, dass dieser nicht als neutral gelten könne, weil er Mitglied des Leitenden Ausschusses des Konkordats der schweizerischen Krankenkassen sei. Tatsächlich gehört Y seit 1978 diesem Gremium an, in welches er aufgrund seiner Eigenschaft als Nationalrat gewählt worden ist.
b) (Rechtzeitigkeit der Einwendung.)

3. a) Nach Art. 58 Abs. 1 (erster Teilsatz) BV darf niemand seinem verfassungsmässigen Richter entzogen werden. Diese Verfassungsnorm verleiht dem einzelnen einen Anspruch auf richtige Besetzung des Gerichts. Dazu gehört wesentlich, dass im konkreten Verfahren unvoreingenommene Richter mitwirken, welche die nötige Gewähr für eine unabhängige und unparteiische Beurteilung der Streitsache bieten (BGE 112 Ia 292 Erw. 3, BGE 108 Ia 50 Erw. 1
BGE 114 V 292 S. 295
und 53 Erw. 3, 105 Ia 159 Erw. 3 und 161 Erw. 5 sowie 175 Erw. 3a, 104 Ia 273 Erw. 3 mit Hinweisen).
b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat mit Bezug auf Art. 101 lit. b und 113 Abs. 2 lit. b AVIG sowie Art. 30bis Abs. 1 KUVG entschieden, dass in diesen Bestimmungen ein bundesrechtlicher Anspruch auf eine richtige Besetzung des Gerichts bzw. einen unbefangenen Richter enthalten ist (nicht veröffentlichte Urteile B. vom 16. März 1988 und B. vom 29. September 1987 sowie G. vom 30. Dezember 1986). Das hat auch mit Bezug auf das Schiedsgericht gemäss Art. 25 Abs. 1 KUVG zu gelten, welches dieselbe Gewähr für Unparteilichkeit zu bieten hat wie andere staatliche Gerichte. Der in dieser Bestimmung eingeschlossene Anspruch auf richtige Besetzung des Gerichts stellt insofern eine gesetzliche Konkretisierung der obengenannten Verfassungsnorm dar. Darüber hinaus haben die Richter die Eigenschaften und personellen Voraussetzungen zu erfüllen, die Art. 25 Abs. 4 KUVG vorschreibt und deren Fehlen ebenfalls eine gesetzwidrige Besetzung des Gerichts darstellt.
c) Das Gebot der Unparteilichkeit gilt für den Vorsitzenden und die übrigen Richter in gleichem Masse (vgl. per analogiam BGE 113 Ia 408 Erw. 2a, 105 Ia 247 und BGE 92 I 276 Erw. 4). Diese haben deshalb in Ausstand zu treten, wenn sie mit einer Partei in einer Weise verbunden sind, welche die Besorgnis der Befangenheit begründet. Die Frage des unparteiischen Richters weist jedoch im Rahmen von Art. 25 KUVG spezielle Aspekte auf, indem unter anderem als besondere gesetzliche Auflage für den Vorsitzenden verlangt wird, dass er neutral sei.
Für das Verständnis des Begriffes "neutral" ist von der Vorschrift des Art. 25 Abs. 4 KUVG auszugehen, wonach die Krankenkassen und die Berufsgruppe oder Institution, denen im konkreten Streitfall die Gegenpartei der Kassen zuzuordnen ist, im Gericht in gleicher Zahl vertreten sein müssen. Neutralität kann daher nur heissen, dass der Vorsitzende keinem dieser Interessiertenkreise angehört und mit diesen auch anderweitig nicht in einer Weise verfochten ist, welche seine Unabhängigkeit als gefährdet erscheinen lässt. Bei der Beurteilung der Neutralität ist aus den nachstehend angeführten Gründen ein strenger Massstab anzulegen.
d) Die neben dem Vorsitzenden tätigen Richter erscheinen aufgrund ihrer Verbundenheit mit den interessierten Kreisen erfahrungsgemäss leicht als kaum ganz unabhängig (was nicht schon
BGE 114 V 292 S. 296
Parteilichkeit im Sinne einer unzulässigen einseitigen Parteinahme bedeutet; vgl. BGE 113 Ia 408 Erw. 2a). Auch liegt es in der Natur der Sache, dass sie gegensätzliche Standpunkte einnehmen können, auch wenn sie unparteiisch handeln. In dieser Lage fällt praktisch die Entscheidung dem Vorsitzenden zu. Dieser bietet aber nur dann Gewähr für ein unabhängiges Erkenntnis, wenn er gegenüber den im Spiele stehenden Sach- und Gruppeninteressen streng neutral ist. Sodann ist wiederholt die Befürchtung geäussert worden, die neben dem Vorsitzenden tätigen Richter könnten sich als Parteianwälte im Richterkleid verstehen (PFLUGER, Die Neuordnung des Rechtsschutzes in der Krankenversicherung, in Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung, 1957, S. 53 f.; SCHWEIZER, Die kantonalen Schiedsgerichte für Streitigkeiten zwischen Ärzten oder Apothekern und Krankenkassen, Diss. Zürich 1957, S. 25 ff.; SCHÄREN, Die Stellung des Arztes in der sozialen Krankenversicherung, Diss. Zürich 1973, S. 364). Die der paritätischen Mitwirkung zugedachte Aufgabe besteht jedoch, wie die genannten Autoren zutreffend hervorheben, nicht in einer einseitigen Interessenwahrnehmung für eine Prozesspartei. Vielmehr will das Gesetz den in Art. 25 Abs. 4 KUVG angeführten interessierten Kreisen die Möglichkeit einräumen, Leute ihres Vertrauens in die Schiedsgerichte zu entsenden, um die notwendige Sachkunde zu vermitteln und die branchenspezifischen Gesichtspunkte zur Kenntnis zu bringen, so dass die für oder gegen die Parteien sprechenden Umstände voll zur Geltung kommen und sorgfältig gewürdigt werden können. Wenngleich dieser Beitrag wie auch die Stimmabgabe Unparteilichkeit verlangen, so nimmt doch der Vorsitzende eine entscheidende Stellung als Garant objektiver Rechtsfindung ein. Dieser Aufgabe kann nur strenge Neutralität gerecht werden.

4. a) Das Konkordat bezweckt in der Hauptsache die Förderung der Krankenversicherung. Seine Aufgaben sind nach seinen Statuten u.a. die Wahrung der Interessen der Versicherten sowie der angeschlossenen Verbände und Kassen bei den Behörden, Versicherungsanstalten, Heilanstalten und Medizinalpersonen (Art. 3 lit. c). Es berät die Kassen in allen Fragen der Krankenversicherung, stellt verbindliche Richtlinien für den Abschluss von Verträgen mit Medizinalpersonen oder Heilanstalten auf und wirkt bei Vertragsverhandlungen und Abschluss von Landesverträgen mit (Art. 3 lit. d). Ferner schafft es Kontrollorgane für die Krankenpflegeversicherung (Art. 3 lit. n). Als besondere
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Dienstleistung erstellt das Konkordat für die einzelnen Kantone eine Behandlungsfallstatistik, welche den Kassen als Grundlage für die Feststellung unwirtschaftlicher Behandlung durch Ärzte (Polypragmasie) dienen soll. Der Leitende Ausschuss besteht statutengemäss aus dem Präsidenten und 24 Mitgliedern, die Vertreter der Konkordatsmitglieder sein müssen, sowie aus 4 bis 6 Mitgliedern, die den eidgenössischen Räten angehören und mit der sozialen Krankenversicherung verbunden sind (Art. 15 Abs. 1).
b) Mit der Zugehörigkeit zum Leitenden Ausschuss bringt Y gegenüber dem Konkordat und Dritten zum Ausdruck, dass er die Interessen der Krankenkassen fördern und unterstützen will. Dazu kommt, dass das Konkordat im vorliegenden Fall den Beschwerdegegnerinnen mit der Behandlungsfallstatistik ein wesentliches Beweismittel lieferte und durch seinen Vertrauensarzt wie auch seine Statistikabteilung die Gegenpartei des Beschwerdeführers wiederholt beriet. Die Verflechtung mit der Krankenkassenseite wird vollends deutlich, wenn mit bedacht wird, dass Y aufgrund seiner Kantonszugehörigkeit und als parlamentarischer Vertreter im Leitenden Ausschuss dem Konkordatsmitglied bzw. Krankenkassenverband seines Kantons ohne Zweifel nahestehen dürfte. Dieser Interessengemeinschaft gehören aber auch die Beschwerdegegnerinnen an, die zudem im vorliegenden Verfahren vom Verband vertreten werden. Ein Richter, der Krankenkassenkreisen so nahesteht, kann im Widerstreit der Interessen zwischen Kassen und Medizinalpersonen nicht als neutral im Sinne von Art. 25 Abs. 4 KUVG gelten.
Dagegen vermag nicht aufzukommen, dass Y gegenüber der Haltung des Konkordats in einzelnen Fragen durchaus kritisch eingestellt ist und für sich in Anspruch nimmt, als Vorsitzender des Schiedsgerichts trotz Zugehörigkeit zum Leitenden Ausschuss des Konkordats unparteiisch gerichtet zu haben und richten zu können. Ist die Neutralität im Sinne von Art. 25 Abs. 4 KUVG in Frage gestellt, bedarf es nicht des Nachweises, dass der Vorsitzende in der streitigen Angelegenheit subjektiv tatsächlich nicht zu neutralem Handeln fähig sei. Es genügt die Feststellung, dass der Vorsitzende nach den konkreten Umständen den am Falle interessierten Kreisen zuzurechnen oder mit diesen in einer Weise verbunden ist, die bei objektiver Betrachtung den Anschein fehlender Neutralität erweckt.

5. Da die gemäss Art. 25 Abs. 4 KUVG erforderliche Neutralität des Vorsitzenden in der Person von Y nach dem Gesagten
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nicht gegeben und das Schiedsgericht mithin in gesetzwidriger Besetzung tätig war, ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die Sache in bundesrechtskonformer Zusammensetzung des Gerichts neu beurteile.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5

Referenzen

BGE: 113 IA 408, 112 IA 292, 108 IA 50, 92 I 276

Artikel: Art. 25 Abs. 4 KUVG, Art. 25 Abs. 1 KUVG, Art. 25 KUVG, Art. 25 Abs. 1 und 4 KUVG mehr...