141 IV 93
Urteilskopf
141 IV 93
12. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A.X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und B.X. (Beschwerde in Strafsachen)
6B_1085/2014 vom 10. Februar 2015
Regeste
Art. 101 Abs. 1 lit. e und Abs. 3 StGB; Art. 320 Abs. 4 und Art. 323 Abs. 1 StPO ; Verjährung; Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines eingestellten Verfahrens.
Die Wirkungen von Einstellungsverfügungen, welche in Anwendung von kantonalem Prozessrecht ergangen sind, richten sich seit dem 1. Januar 2011 nach der Schweizerischen Strafprozessordnung.
Die rückwirkende Änderung der Verjährungsfristen erlaubt keine Wiederaufnahme von bereits rechtskräftig eingestellten Verfahren (E. 2.3).
A. A.X. erklärte am 16. März 2010 gegenüber der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, sie habe im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren mehrfach sexuelle Übergriffe von ihrem Vater B.X. erlitten. Am 10. August 2010 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren infolge Verjährung ein.
B. Die Staatsanwaltschaft verfügte am 5. Juli 2013 die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen B.X. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt hob diesen Entscheid in Gutheissung einer Beschwerde von B.X. am 20. August 2014 auf.
BGE 141 IV 93 S. 94
C. A.X. führt Beschwerde ans Bundesgericht. Sie beantragt, der Entscheid des Appellationsgerichtes sei aufzuheben.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
Aus den Erwägungen:
1.1 Am 30. November 2008 nahmen Volk und Stände die Volksinitiative "Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern" (Unverjährbarkeitsinitiative) an. Art. 123b BV schreibt seither vor, dass die Verfolgung sexueller oder pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Taten unverjährbar sind. Gestützt darauf erliess die Bundesversammlung Ausführungsbestimmungen, welche am 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt wurden. Für verschiedene Sexualstraftaten tritt nunmehr keine Verjährung ein, wenn sie an Kindern unter 12 Jahren begangen wurden (Art. 101 Abs. 1 lit. e StGB). Dies gilt auch, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe am 30. November 2008 nach dem bis zu jenem Zeitpunkt geltenden Recht noch nicht verjährt war (Art. 101 Abs. 3 StGB).
1.2 Als die Staatsanwaltschaft am 10. August 2010 das Verfahren gegen den Beschwerdegegner 2 (B.X.) infolge Verjährung einstellte, hatte die Bundesversammlung noch keine Ausführungsbestimmungen zu Art. 123b BV erlassen. Sie begründet die Wiederaufnahme des Verfahrens damit, dass mit dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen (Art. 101 Abs. 1 lit. e und Abs. 3 StGB) eine neue Tatsache bestehe, welche zum Zeitpunkt der Einstellungsverfügung noch nicht vorgelegen habe und dazu führe, dass allfällige Straftaten des Beschwerdegegners 2 zum Nachteil der Beschwerdeführerin zwischen dem 1. Dezember 1993 und dem 14. Mai 1995 nicht verjährt seien. Die Vorinstanz erwägt im Wesentlichen, dass die Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative auf Gesetzesstufe keine neue Tatsache im Sinne von Art. 323 Abs. 1 StPO darstelle, weshalb die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den Beschwerdegegner 2 nicht erfüllt seien. Sie fügt hinzu, es sei zum Zeitpunkt der Verfahrenseinstellung voraussehbar gewesen, dass das Prozesshindernis der Verjährung in absehbarer Zeit hinweggefallen wäre. Es wäre deshalb angezeigt gewesen, das Verfahren zu sistieren, anstatt es einzustellen. Eine Wiederanhandnahme desselben wäre auf diese Weise möglich gewesen.
BGE 141 IV 93 S. 95
2.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Unverjährbarkeitsinitiative sei bereits im November 2008 angenommen worden. Dadurch, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt statt sistiert habe, könne sie nicht zu ihrem Recht kommen. Es sei nicht verständlich, dass keine Möglichkeit bestehe, diesen Fehler zu korrigieren.
2.2 Die Einstellung des Verfahrens gegen den Beschwerdegegner 2 im August 2010 erging in Anwendung des damals geltenden kantonalen Strafprozessrechts. Nach § 167 Abs. 1 aStPO/BS konnten Einstellungsbeschlüsse der Staatsanwaltschaft mittels Rekurs angefochten werden. Auf die Rekursmöglichkeit war im Einstellungsbeschluss hinzuweisen (§ 109 Abs. 3 aStPO/BS). Die Beschwerdeführerin hat die Einstellung nicht angefochten, womit diese nach Ablauf der zehntägigen Rekursfrist (§ 169 Abs. 1 aStPO/BS) in Rechtskraft erwachsen ist. Die Rüge, es bestehe keine Möglichkeit, den Fehler der Staatsanwaltschaft zu korrigieren, ist unbegründet.
2.3 Ab dem 1. Januar 2011 richten sich die Wirkungen von Einstellungsverfügungen, die vor diesem Datum in Anwendung kantonalen Rechts ergangen sind, nach der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO). Dies betrifft auch die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens (Urteil 6B_512/2012 vom 30. April 2013 E. 1.2 mit Hinweisen).
Nach Art. 320 Abs. 4 StPO kommt eine rechtskräftige Einstellungsverfügung einem freisprechenden Endentscheid gleich. Art. 11 StPO verbietet in diesem Fall eine erneute Strafverfolgung wegen der gleichen Tat (Abs. 1); vorbehalten bleiben die Wiederaufnahme eines eingestellten oder nicht anhand genommenen Verfahrens und die Revision (Abs. 2). Art. 323 Abs. 1 StPO sieht die Wiederaufnahme des Verfahrens vor, wenn der Staatsanwaltschaft neue Beweismittel oder Tatsachen bekannt werden, die für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der beschuldigten Person sprechen und sich nicht aus den früheren Akten ergeben. Die Wiederaufnahme eines eingestellten Verfahrens ist grundsätzlich an geringere Voraussetzungen geknüpft als die Revision eines rechtskräftigen Urteils gemäss Art. 410 ff. StPO (Urteil 6B_92/2014 vom 8. Mai 2014 E. 3.1 mit Hinweisen). Gleichwohl stimmt der Begriff der neuen Beweismittel oder Tatsachen von Art. 323 Abs. 1 StPO mit demjenigen von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO überein. Unter Tatsachen sind Umstände zu verstehen, die im Rahmen des dem Urteil zu Grunde liegenden
BGE 141 IV 93 S. 96
Sachverhalts von Bedeutung sind. Mit Beweismitteln wird der Nachweis von Tatsachen erbracht. Eine Meinung, eine persönliche Würdigung oder eine neue Rechtsauffassung vermag die Wiederaufnahme nicht zu rechtfertigen (BGE 137 IV 59 E. 5.1.1; Urteile 6B_339/2012 vom 11. Oktober 2012 E. 2.2.2; 6B_658/2012 vom 2. Mai 2013 E. 1.3.2). Die am 1. Januar 2013 in Kraft getretene Gesetzesänderung betrifft nicht den dem Beschwerdegegner 2 zur Last gelegten Sachverhalt, sondern dessen rechtliche Beurteilung. Die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne von Art. 323 Abs. 1 StPO sind - wie die Vorinstanz zutreffend erwägt - nicht erfüllt.