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[AZA 7] 
I 144/01 Gi 
 
II. Kammer 
 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter 
Ursprung; Gerichtsschreiber Renggli 
 
Urteil vom 16. Mai 2002 
 
in Sachen 
S.________, 1946, Beschwerdeführer, vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Schützenweg 10, 3014 Bern, 
 
gegen 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
A.- S.________, geboren 1946, ist Hochbauzeichner und Bauleiter und führte von 1993 bis 1996 als Selbstständigerwerbender ein Architekturbüro. Am 9. Mai 1997 meldete er sich bei der IV wegen einer psychischen Erkrankung zum Leistungsbezug (Berufsberatung, Umschulung und Arbeitsvermittlung) an. 
Die IV-Stelle Bern holte in der Folge einen Bericht des behandelnden Arztes, Dr. med. W.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 5. Juni 1997 ein. Weiter gab sie bei Dr. med. H.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Psychiatrische Klinik A.________, ein Gutachten in Auftrag, welches am 16. Dezember 1997 erstattet wurde. Dr. med. W.________ lieferte am 14. November 1998 und am 20. Mai 1999 je einen ärztlichen Zwischenbericht. 
Gestützt auf diese Abklärungen stellte die IV-Stelle S.________ mit Vorbescheid vom 4. August 1999 die Ablehnung seines Leistungsersuchens in Aussicht. Nachdem der Versicherte und die Sozialarbeiterin T.________ vom Sozialdienst der Psychiatrischen Klinik A.________ am 11. bzw. 13. August 1999 dazu Stellung bezogen und dabei auf eine infolge einer vertieften Depressivität notwendig gewordene Einweisung in die genannte Klinik aufmerksam gemacht hatte, holte die IV-Stelle einen Bericht der Klinik vom 10. November 1999 und ein zweites Gutachten von Dr. med. H.________ vom 15. Mai 2000 ein. Mit Verfügung vom 6. Juni 2000 wies sie das Leistungsbegehren ab. 
 
 
B.- Die daraufhin eingereichte Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 26. Januar 2001 abgewiesen. Zur Begründung führte das Gericht aus, der Beschwerdeführer sei in seiner angestammten Tätigkeit wie auch in einer anderen adäquaten Arbeit voll erwerbsfähig, und es liege kein chronifizierter und fixierter Gesundheitsschaden vor. 
 
C.- S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid der Vorinstanz sei aufzuheben und es sei ihm mit Wirkung ab 1. September 1997 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter wird eine erneute fachärztliche Begutachtung beantragt. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Bestimmung über den Begriff der Invalidität (Art. 4 IVG) und die Rechtsprechung zu den invalidisierenden psychischen Gesundheitsschäden (BGE 102 V 165; AHI 2000 S. 151 Erw. 2a, 1996 S. 302 Erw. 2a; ZAK 1992 S. 170 Erw. 2a mit Hinweisen; siehe jetzt auch BGE 127 V 298 Erw. 4c mit Hinweisen) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
b) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 135 OG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG; Art. 85 Abs. 2 lit. c AHVG in Verbindung mit Art. 69 IVG; Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, S. 229). Danach haben Versicherungsträger und -richter die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruchs gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswerts eines Arztberichts ist entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 f. Erw. 1c). 
 
2.- Die Entwicklung der gesundheitlichen und erwerblichen Situation des Beschwerdeführers zeigt folgendes Bild: 
 
a) Der Beschwerdeführer befindet sich seit September 1996 in psychiatrischer Behandlung. Im Bericht des behandelnden Arztes, Dr. med. W.________, vom 5. Juni 1997 wurde die Diagnose einer längeren depressiven Reaktion auf eine länger anhaltende Belastungssituation (ICD-10 F43. 21) bei vorbestehender schwerer neurotischer Fehlentwicklung gestellt. 
Die Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Beruf betrug nach Einschätzung des Arztes durchschnittlich 40 % für die Zeit von September 1996 bis Februar 1997 und anschliessend 100 % bis zum Zeitpunkt der Untersuchung. Berufsberatung und Umschulung wurden als angezeigt erachtet. Dr. med. 
H.________ hielt in seinem ersten Gutachten vom 16. Dezember 1997 eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer neurotisch-charakterneurotischen Fehlentwicklung fest. Das Scheitern des Exploranden im beruflichen Alltag sei vermutungsweise nicht ausschliesslich Folge der Rezession, sondern es habe sich hier mit grösster Wahrscheinlichkeit die Persönlichkeitsstörung ausgewirkt. Auch sei eine gewisse Suizidalität anzunehmen. Eine verbindliche Aussage zur Arbeitsunfähigkeit sei nicht möglich; einzig ein Arbeitsversuch könnte erweisen, ob die chronifizierende depressive Verstimmung die Arbeitsfähigkeit wesentlich beeinträchtige. 
Im ärztlichen Zwischenbericht vom 14. November 1998 schrieb Dr. med. W.________ bei unveränderter Diagnose von einem verbesserten Gesundheitszustand des Versicherten. Der Versicherte hatte zwischenzeitlich wieder eine selbstständige Tätigkeit als Architekt aufgenommen. Für die Zeit von März bis September 1997 wurde vom Arzt eine 100 %ige, von Oktober 1997 bis Februar 1998 eine 70 %ige und ab März 1998 noch eine 50 %ige Arbeitsunfähigkeit angegeben. Diese halbe Arbeitsleistung sei bei vollem zeitlichem Einsatz zu erbringen. 
Dr. W.________ erachtete eine Steigerung der Arbeitsleistung auf 100 % bis Ende 1998 als möglich. 
Auf Grund eines extern begutachteten Business-Planes des Versicherten und eigener Abklärungen empfahl der Berufsberater bei der IV-Stelle Bern, eine Kapitalhilfe zur Finanzierung von Büroinfrastrukturen, Miete, Material- und Inseratekosten, um dem Beschwerdeführer den erneuten Einstieg in eine selbstständige Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. 
Mit Verfügung vom 21. September 1999 gewährte die IV-Stelle die Kostenübernahme für die Begutachtung des Business-Planes. 
Dr. med. W.________ gab am 20. Mai 1999 in einem weiteren ärztlichen Zwischenbericht an, der Gesundheitszustand des Patienten habe sich seit seinem letzten Bericht wieder verschlechtert; er sei auf Grund anhaltenden beruflichen Stresses (finanzielle Engpässe) erneut depressiv dekompensiert und stehe wieder unter Medikation mit Antidepressiva. 
Die Arbeitsunfähigkeit wurde - entgegen der optimistischen Einschätzung im vorangehenden Bericht - mit weiterhin 50 % angegeben, wobei eine Beschränkung der zeitlichen Belastung auf 50 % eines Normalpensums zu empfehlen und die Produktivität laufend zu evaluieren sei. Die gesundheitliche Prognose sei von der beruflichen Entwicklung abhängig: sofern der Patient beruflich wieder Fuss fassen könne, sei seine psychische/psychiatrische Prognose gut, andernfalls schlecht. Die Erwerbsfähigkeit sei geradezu von beruflichen Massnahmen abhängig. In einem Schreiben vom 12. Juni 1999 präzisierte Dr. W.________ auf Anfrage hin, dass eine finanzielle Unterstützung zur Steigerung der Arbeitsfähigkeit dann sinnvoll sei, wenn dem Beschwerdeführer jemand zur Seite stehe, der abschätze, ob seine Geschäftschancen intakt seien, was angesichts des Zustandes des Patienten und angesichts der von diesem geschilderten Situation fraglich sei. Wenn sie sich aber erbringen liesse, könne mit einer raschen und erheblichen Verbesserung der Arbeitsfähigkeit gerechnet werden. 
 
b) Im nach dem Vorbescheidverfahren eingeholten Arztbericht der Psychiatrischen Klinik M.________ vom 10. November 1999 wurde die Diagnose einer chronifizierten schweren Depression bei selbstunsicherer Persönlichkeit (ICD-10 F33. 2, F60. 6) gestellt. Seit September 1996 und auch nach dem Klinikaustritt liege eine 100 %ige Arbeitsunfähigkeit vor. Zugleich wurde allerdings auch angegeben, der Beschwerdeführer könne eventuell noch als Bauzeichner eingesetzt werden, allerdings zu nicht mehr als 50 % und nur in einem wohlwollenden, unterstützenden Klima. Am 15. Mai 2000 lieferte Dr. med. H.________ sein zweites Gutachten ab. 
Darin führte er aus, am Gesundheitszustand des Versicherten habe sich seit 1997 nichts Grundlegendes geändert; es sei nicht von einer relevanten Verschlechterung auszugehen. Der Explorand habe nicht etwa infolge einer psychischen Krankheit seine Tätigkeit als selbstständiger Architekt aufgeben müssen, sondern es habe umgekehrt die berufliche Situation zu einer depressiv gefärbten Dekompensation geführt, womit ganz eindeutig ein reaktiv-depressives Geschehen vorliege. 
Zur Arbeitsunfähigkeit führte der Gutachter aus, der Versicherte dürfte als angestellter Architekt wohl voll arbeitsfähig sein. 
 
c) Der Verwaltungsgerichtsbeschwerde liegt ein Schreiben von Dr. med. W.________ vom 3. März 2001 an die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers bei, in welchem der Arzt den gegenwärtigen Zustand des Patienten als schwere, aktuell chronifiziert wirkende depressive Störung bezeichnet und eine 100 %ige Arbeitsunfähigkeit sowohl in der angestammten als auch in jeder denkbaren anderen Tätigkeit attestiert. 
 
3.- Damit liegen insgesamt sieben ärztliche Berichte vor, wovon einer nach Erlass der streitigen Verfügung verfasst wurde. Vier stammen vom behandelnden Arzt, Dr. med. 
W.________, zwei vom Gutachter Dr. med. H.________ und einer von den Dres. med. K.________ und R.________ von der psychiatrischen Klinik A.________, in welcher der Patient zeitweise hospitalisiert war. Die Diagnosen, wenn auch im einzelnen differierend, stimmen insofern überein, als eine sich während längerer Zeit auswirkende psychische Störung bei vorbestehenden Fehlentwicklungen der Psyche festgehalten wird. Die Aussagen zur Arbeitsunfähigkeit sind uneinheitlich und reichen von voller Erwerbsfähigkeit über eingeschränkte Arbeitsfähigkeit bis zu vollständiger Unfähigkeit zur Erwerbstätigkeit. Von Dr. H.________ wird auf eine Stellungnahme zu dieser Frage verzichtet, weil sich dazu keine gesicherten Aussagen machen liessen. 
 
a) Die Vorinstanz hat ihre Entscheidung wesentlich auf das von ihr als umfassend und schlüssig bezeichnete Gutachten von Dr. med. H.________ vom 15. Mai 2000 gestützt. Diese Würdigung vermag nicht zu überzeugen. Die Zuschreibung einer vollen Erwerbsfähigkeit wird im fraglichen Gutachten nicht begründet. Des Weitern liegt ein Widerspruch darin, dass der berufliche Misserfolg des Beschwerdeführers im ersten Gutachten "mit grösster Wahrscheinlichkeit" auch als Auswirkung der Persönlichkeitsstörung betrachtet wurde, während im zweiten Gutachten der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ausschliesslich so gesehen wird, dass die Schwierigkeiten im Beruf zu psychischen Problemen geführt hätten. 
Sodann ist die Auseinandersetzung mit der Diagnose einer chronifizierten schweren Depression, die von den Dres. med. 
K.________ und R.________ gestellt worden war, ungenügend, wird sie doch einfach als "etwas unverständlich" bezeichnet. 
Der Gutachter verweist auf die allerdings tatsächlich widersprüchlichen Aussagen dieser Ärzte zur Arbeitsunfähigkeit und nimmt zur Diagnose nicht weiter Stellung. 
Schliesslich ist zu sagen, dass es für den Krankheitswert einer psychischen Störung auf deren Genese (zumindest im Bereich der Invalidenversicherung) nicht ankommen kann. 
Entscheidend ist allein, ob die Erwerbsfähigkeit während längerer Zeit in bedeutendem Umfang eingeschränkt ist (BGE 127 V 298 Erw. 4c mit Hinweisen). Die Aussage, dass eindeutig eine Reaktion (nämlich auf wirtschaftliche Verhältnisse) vorliege, hilft daher nicht weiter. Damit ist dem Gutachten von Dr. med. H.________ vom 15. Mai 2000 im Rahmen der Beweiswürdigung kein spezielles Gewicht zuzumessen. 
Es bleiben gleichgewichtig mehrere Stellungnahmen medizinischer Fachleute zu beachten, aus denen sich bezüglich der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers keine klaren Schlüsse ziehen lassen. Der Sachverhalt muss als in diesem Punkt nicht genügend geklärt bezeichnet werden. 
 
b) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, die Vorinstanz sei zu Unrecht von einer Übereinstimmung zwischen den Dres. med. H.________ und W.________ in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers ausgegangen. Dieser Einwand trifft zu. Auch wenn Dr. 
W.________ in seinem vom kantonalen Gericht angeführten Schreiben vom 10. Juni 2000 eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit unter günstigen Umständen als möglich erachtet, ist es nicht statthaft, dadurch die Aussage von Dr. 
H.________ bestätigt zu sehen, der Beschwerdeführer könnte als selbstständiger Architekt wieder uneingeschränkt arbeiten, würden ihm nur die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt. 
 
c) Die IV-Stelle wird, entsprechend dem Eventualantrag in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, eine fachärztliche Begutachtung des Beschwerdeführers durchführen lassen und gestützt auf die Ergebnisse über dessen Leistungsanspruch neu verfügen. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I.In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde 
werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts 
des Kantons Bern vom 26. Januar 2001 und die Verfügung 
der IV-Stelle Bern vom 6. Juni 2000 aufgehoben und die 
Sache wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit 
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, 
über die Leistungsansprüche des Beschwerdeführers neu 
verfüge. 
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich 
 
 
Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
 
IV.Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses 
 
 
zu befinden haben. 
 
V.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht 
des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche 
Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und 
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 16. Mai 2002 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: