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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.365/2003 /bie 
 
Urteil vom 17. September 2003 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, 
Bundesrichter Féraud, 
Gerichtsschreiberin Gerber. 
 
Parteien 
M.________, Zürich, Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ludwig Müller, Schifflände 6, Postfach 310, 8024 Zürich, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, 
Florhofgasse 2, Postfach, 8023 Zürich, 
Kassationsgericht des Kantons Zürich, 
Postfach 4875, 8022 Zürich. 
 
Gegenstand 
Art. 9 und 29 Abs. 1 u. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Strafverfahren), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss 
des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 
29. April 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am 10. November 1998 wurde M.________ vom Bezirksgericht Zürich, 8. Abteilung, wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 13 Monaten Gefängnis bedingt und einer unbedingten Landesverweisung von 5 Jahren verurteilt. Innert Frist wurde keine Berufung erhoben. 
B. 
M.________ verliess die Schweiz und kehrte in sein Heimatland Jamaica zurück. Anlässlich einer späteren Wiedereinreise in die Schweiz wurde er verhaftet und mit einer Strafe wegen Verweisungsbruchs belegt. 
C. 
Am 29. Januar 2002 erklärte M.________ Berufung gegen das Urteil vom 10. November 1998 und verlangte die Aufhebung der ausgefällten Landesverweisung, eventualiter deren Aussetzung zur Bewährung. Er machte geltend, seine frühere amtliche Verteidigerin, Rechtsanwältin R.________, habe entgegen seiner Weisung keine Berufung erhoben. Mit Verfügung vom 11. Februar 2002 wies der Vorsitzende der 8. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich die Berufung als verspätet zurück. 
D. 
Daraufhin erhob M.________ Direktberufung beim Obergericht. Dieses führte eine Beweisverhandlung zur Frage durch, ob Rechtsanwältin R.________ die Weisung erhalten habe, Berufung zu erheben. Mit Beschluss vom 19. Juli 2002 trat das Obergericht auf die Direktberufung nicht ein. 
E. 
Gegen den obergerichtlichen Nichteintretensentscheid meldete M.________ kantonale Nichtigkeitsbeschwerde an. Am 29. April 2003 trat das Kassationsgericht des Kantons Zürich auf die Beschwerde nicht ein, weil die Beschwerde den Begründungsanforderungen gemäss § 430 Abs. 2 des Gesetzes betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (Strafprozessordnung; StPO) nicht genüge. 
F. 
Gegen den Entscheid des Kassationsgerichts erhob M.________ am 13. Juni 2003 staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht wegen Verletzung von Art. 9 und Art. 29 Abs. 1 und 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und das Verfahren an das Kassationsgericht zurückzuweisen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und das Kassationsgericht haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid, der sich auf kantonales Prozessrecht stützt. Hiergegen steht nur die staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht offen (Art. 84 Abs. 1 und 2, Art. 86 OG). Der Beschwerdeführer ist als Partei des kantonalen Verfahrens legitimiert, eine formelle Rechtsverweigerung durch willkürliche Handhabung des kantonalen Prozessrechts geltend zu machen (Art. 88 OG; BGE 119 Ia 424 E. 3c S. 428; 118 Ia 232 E. 1a S. 234/235). Auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde ist daher einzutreten. 
2. 
2.1 Gemäss § 430 Abs. 1 StPO ist die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde nur aus bestimmten, in Ziff. 1-6 genannten Gründen zulässig. § 430 Abs. 2 StPO präzisiert, dass jeder Nichtigkeitsgrund in der Beschwerdeschrift genau zu bezeichnen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Kassationsgerichts bedeutet dies, dass sich der Nichtigkeitskläger konkret mit dem angefochtenen Entscheid auseinandersetzen und den behaupteten Nichtigkeitsgrund in der Beschwerdeschrift nachweisen muss; es sei nicht Aufgabe des Kassationsgerichts, in den vorinstanzlichen Akten nach den Grundlagen des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes zu suchen (Niklaus Schmid in: Andreas Donatsch/Niklaus Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich, Loseblattausgabe, N 32 zu § 430; Diether von Rechenberg, Die Nichtigkeitsbeschwerde in Zivil- und Strafsachen nach zürcherischem Recht, 2. Aufl., Zürich 1986, S. 18). Diese Praxis wird vom Beschwerdeführer nicht grundsätzlich in Frage gestellt. 
2.2 In seiner Nichtigkeitsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer die Beweiswürdigung des Obergerichts als willkürlich und machte geltend, damit sei der Nichtigkeitsgrund von § 430 Abs. 1 Ziff. 4 StPO gegeben (Verletzung gesetzlicher Prozessformen zum Nachteil des Nichtigkeitsklägers). Das Kassationsgericht hielt diese Rüge für ungenügend begründet: Der Beschwerdeführer gehe in seiner Beschwerdeschrift ausführlich auf die Aussagen seiner früheren Verteidigerin ein und unterziehe diese einer eigenen Beweiswürdigung, wobei er auch deren Honorarabrechnung sowie weitere Umstände in Betracht ziehe. Eine Auseinandersetzung mit dem vorinstanzlichen Urteil finde jedoch nur marginal statt. Der Beschwerdeführer nehme nur Bezug auf die Schlussfolgerungen des Obergerichts, dessen Aktenzitate sowie ihm zustimmende Erwägungen. Er setze sich jedoch in keiner Weise mit denjenigen Erwägungen des Obergerichts auseinander, mit welchen begründet werde, weshalb auf die Aussagen von Rechtsanwältin R.________ abzustellen sei. Das Obergericht habe festgestellt, dass der Beschwerdeführer nach seiner Verurteilung in sein Heimatland zurück gegangen sei und sich in keiner Weise um das angeblich in der Schweiz pendente Verfahren gekümmert habe. Daraus, also insbesondere aus dem Verhalten des Beschwerdeführers selbst, habe das Obergericht gefolgert, dass ihm aus dem Schweizer Urteil nach seiner Rückkehr in seine Heimat keine Nachteile erwachsen würden und dass gerade in diesem Lichte betrachtet die Ausführungen der früheren Verteidigerin, der Beschwerdeführer habe eine Berufung nicht für notwendig gehalten, glaubhaft erschienen. Da sich der Beschwerdeführer mit der tragenden Begründung des Obergerichts nicht auseinandergesetzt habe, sondern im Wesentlichen nur seine eigene Interpretation der vorliegenden Beweise präsentiert habe, könne auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht eingetreten werden. 
2.3 Der Beschwerdeführer hält die Argumentation der Vorinstanz für willkürlich. Er habe in seiner Nichtigkeitsbeschwerde aufgezeigt, weshalb die obergerichtliche Schlussfolgerung, "die Sachdarstellung der Zeugin sei in allen Teilen überzeugend", unhaltbar sei. Dieser Nachweis, dass die Schlussfolgerung unhaltbar sei, genüge; dagegen brauche er sich nicht damit zu beschäftigen, auf welchem Weg das Obergericht zu seiner falschen Schlussfolgerung gelangt sei. Die Auffassung des Kassationsgerichts, der Beschwerdeführer könne nur dann die Unhaltbarkeit der obergerichtlichen Schlussfolgerung aufzeigen, wenn er sich mit der vom Obergericht gewählten Begründung für dessen Schlussfolgerung beschäftige, sei unlogisch und absurd. Es müsse vielmehr genügen, wenn er die Unhaltbarkeit der Schlussfolgerung des Obergerichts auf einem anderen Weg nachweise. 
2.4 Der Beschwerdeführer machte in seiner Nichtigkeitsbeschwerde willkürliche Beweiswürdigung durch das Obergericht geltend. 
 
Willkür liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn ein Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dabei genügt es nicht, wenn sich nur die Begründung des angefochtenen Entscheides als unhaltbar erweist, sondern dieser muss auch im Ergebnis unhaltbar sein (BGE 125 II 129 E. 5b S. 134 mit Hinweis). 
 
Der Nachweis des Nichtigkeitsgrundes der willkürlichen Beweiswürdigung setzt somit voraus, dass sich der Beschwerdeführer mit der Begründung des angefochtenen Entscheids auseinandersetzt und aufzeigt, weshalb sie - ganz oder hinsichtlich einzelner Teilelemente der Beweiswürdigung - willkürlich ist. Sodann muss er aufzeigen, inwiefern sich dies auf das Ergebnis der Beweiswürdigung ausgewirkt hat, diese also auch im Ergebnis willkürlich ist. Dies setzt eine Würdigung sämtlicher willkürfrei ermittelter Beweisergebnisse voraus (vgl. Marc Forster, Kettentheorie der strafprozessualen Beweiswürdigung, ZStrR 115/1997 S. 61 ff., insbes. S. 73 f; 76 ff. und 82 ff.). 
2.5 In seiner Eingabe an das Kassationsgericht hatte der Beschwerdeführer auf Widersprüche zwischen der Aussage der Zeugin und ihrer Honorarabrechnung hingewiesen und das Erinnerungsvermögen der Zeugin in Zweifel gezogen, weil sich diese an gewisse Einzelheiten des Prozesses nicht mehr habe erinnern können. Diese Elemente mögen Zweifel an der Beweiswürdigung des Obergerichts wecken; um zu beurteilen, ob die Beweiswürdigung im Ergebnis willkürlich ist, muss jedoch eine Gesamtwürdigung aller Beweisergebnisse vorgenommen werden. Dazu gehören insbesondere auch alle Beweiselemente, die das Obergericht für die Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin bzw. gegen die Glaubhaftigkeit der Darstellung des Beschwerdeführers angeführt hatte. 
 
Das Obergericht stellte vor allem auf das Verhalten des Beschwerdeführers nach dem Urteil vom 10. November 1998 ab und sah darin eine Bestätigung der Ausführungen der Zeugin, wonach der Beschwerdeführer auf die Anfechtung des Urteils verzichtet habe, weil er ohnehin vorgehabt habe, die Schweiz zu verlassen und die unbedingt ausgesprochene fünfjährige Landesverweisung daher nicht als Nachteil empfunden habe. Mit dieser für das Obergericht wesentlichen Erwägung hat sich der Beschwerdeführer in der Begründung der Nichtigkeitsbeschwerde nicht auseinandergesetzt. Dies wäre aber notwendig gewesen, um beurteilen zu können, ob die Annahme des Obergerichts, der Beschwerdeführer habe Rechtsanwältin R.________ nicht angewiesen, Berufung einzulegen, im Ergebnis willkürlich war. Dies gilt umso mehr, als die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Widersprüche und Erinnerungslücken der Zeugin nicht den entscheiderheblichen Aussagekern betreffen (d.h. die Instruktion betreffend die Berufung), sondern nicht unmittelbar entscheiderhebliche Randthemen (z.B. den Zuzug eines Dolmetschers bei sämtlichen Gefängnisbesuchen oder die Erinnerung an das Auf-den-freien-Fuss-Setzen des Beschwerdeführers nach der Hauptverhandlung), für sich allein also noch nicht zwingend belegen, dass die Schlussfolgerungen des Obergerichts im Ergebnis willkürlich sind. 
 
Das Kassationsgericht durfte deshalb ohne Willkür entscheiden, die Begründungsanforderungen von § 430 Abs. 2 StPO seien nicht erfüllt. 
2.6 Hat das Kassationsgericht § 430 Abs. 2 StPO nicht willkürlich angewandt, so liegt auch keine Verletzung von Art. 29 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vor. 
3. 
Nach dem Gesagte erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 156 OG) und hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
3. 
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 17. September 2003 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: