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[AZA 0] 
1P.245/2000/mks 
 
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG 
********************************** 
 
21. Juni 2000 
 
Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident der 
I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter Nay, 
Bundesrichter Catenazzi und Gerichtsschreiber Störi. 
 
--------- 
 
In Sachen 
L.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rolf Tandler, Wengistrasse 7, Postfach, Zürich, 
 
gegen 
Kreisamt Surses, Savognin, Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Kantonsgericht von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, 
 
betreffend 
Willkür und Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Strafverfahren), hat sich ergeben: 
 
A.- Der Kreisgerichtsausschuss Surses verurteilte L.________ am 17. September 1999 wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG i.V.m. Art. 90 Ziff. 2 SVG zu einer Busse von 500 Franken. 
Es warf ihm vor, am 2. März 1998 anlässlich einer Fahrt mit seinem Personenwagen von Bivio nach Silvaplana eine aus einem Sattelschlepper und zwei Personenwagen bestehende Fahrzeugkolonne an einer unübersichtlichen Stelle beim "verbrannten Haus" überholt und dadurch die Verkehrssicherheit in schwerer Weise gefährdet zu haben. 
 
Der Ausschuss des Kantonsgerichts von Graubünden wies die Berufung von L.________ gegen seine Verurteilung am 15. Dezember 1999 ab. 
 
B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 18. April 2000 wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes "in dubio pro reo" sowie willkürlicher Beweiswürdigung (Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 4 aBV) beantragt L.________, das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses aufzuheben. 
 
C.- Der Kreisgerichtsausschuss Surses, die Staatsanwaltschaft und der Kantonsgerichtsausschuss verzichten unter Hinweis auf die Erwägungen des angefochtenen Urteils auf Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Beim angefochtenen Urteil des Kantonsgerichtsausschusses handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), und er macht die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten geltend. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde unter folgendem Vorbehalt einzutreten ist: 
 
Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde müssen die Rügen und deren Begründung in der Beschwerdeschrift selbst enthalten sein. Auf die Beschwerde ist daher insoweit nicht einzutreten, als der Beschwerdeführer sie mit einem Verweis auf kantonale Rechtsschriften begründet (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 114 Ia 317 E. 2b). 
 
2.- a) Der Sachverhalt ist insoweit nicht mehr bestritten, als der Beschwerdeführer am 2. März 1998 mit seinem Personenwagen von Bivio her über den Julierpass fuhr, bei der Örtlichkeit "verbranntes Haus" auf eine aus einem Sattelschlepper und zwei Personenwagen bestehende, mit rund 30 km/h bergwärts fahrende Fahrzeugkolonne auffuhr und diese in einem Zug überholte. 
 
Der Überholvorgang fand auf einer geraden Strecke statt, die in eine infolge einer vorgelagerten Kuppe nicht einsehbare Rechtskurve mündet. Die für den Beschwerdeführer zu Beginn des Manövers überblickbare Strecke betrug maximal 230 m, wobei sich die Sicht nach vorn während des Überholvorgangs nicht wesentlich erweiterte sondern zu Beginn wie bei dessen Abschluss durch den Kulminationspunkt der Rechtskurve beschränkt war. 
 
b) Der Kantonsgerichtsausschuss geht davon aus, dass ein Überholmanöver nur dann sicher durchgeführt werden kann, wenn die Sichtweite doppelt so lang ist wie der Überholweg. 
Diese Voraussetzung war seiner Überzeugung nach nicht erfüllt. Nach der Formel von Giger, die als Faustregel "im Sinne einer Richtschnur" brauchbar sei, ergäben sich für den Überholweg Werte zwischen 140 und 150 m, wenn man die Geschwindigkeit des überholten Konvois mit 30 km/h, die Länge des Sattelschleppers mit 13 m, die der beiden überholten Personenwagen mit je 3 m und diejenige des Personenwagens des Beschwerdeführers mit 4,7 m, den Abstand zwischen den überholten Fahrzeugen mit je 15 m und die durchschnittliche Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeuges mit 80 km/h annehme. Anlässlich der Rekonstruktion durch die Vorinstanz vom 17. September 1999 habe der Beschwerdeführer bei zwei Versuchsfahrten einen Überholweg von zwischen 140 und 150 m benötigt. Dieses Ergebnis decke sich mit den Aussagen des den Vorfall beobachtenden Polizeibeamten und des Fahrers des Sattelschleppers, welche ausgesagt hätten, das überholende Fahrzeug sei "wenige Meter vor der Kurve" bzw. 
im Bereich der Signaltafel "Telefon ACS", welche 4,4 m vor dem Beginn der Rechtskurve aufgestellt sei, wieder in die rechte Fahrspur eingebogen. 
 
Ausgehend vom so bestimmten Überholweg von 140 m, einer Sichtweite zu Beginn des Überholmanövers von 230 m, einer Dauer des Überholvorganges von 6,3 Sekunden bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h standen dem Gegenverkehr nach der Rechnung des Kantonsgerichtsausschusses noch 90 m Strecke zur Verfügung. Das ist nach seiner Überzeugung ungenügend, weil der Gegenverkehr an dieser Stelle ohne weiteres die erlaubte Geschwindigkeitslimite von 80 km/h ausschöpfen dürfe und damit eine freie Strecke von 140 m benötigt hätte. Damit stand für ihn fest, dass die dem Beschwerdeführer zur Verfügung stehende einsehbare Strecke eindeutig zu kurz war, um das Überholmanöver gefahrlos durchzuführen. 
 
c) Der Beschwerdeführer macht geltend, der Kantonsgerichtsausschuss habe sein rechtliches Gehör verletzt, weil er es abgelehnt habe, ein Gutachten zur Bestimmung des effektiven Überholweges einzuholen. Den Grundsatz "in dubio pro reo" habe er verletzt, indem er davon ausgegangen sei, der Beschwerdeführer habe beim Überholvorgang nur auf 80 km/h beschleunigt. Diese Annahme sei keineswegs zu seinen Gunsten ausgefallen: wäre eine Geschwindigkeit von 95 km/h angenommen worden, hätte sich der Überholweg stark verkürzt. 
In Willkür sei der Kantonsgerichtsausschuss verfallen, indem er das Überholen der drei Fahrzeuge als einheitlichen Überholvorgang gewertet habe: er habe nie die Absicht gehabt, alle drei Fahrzeuge in einem Zug zu überholen und hätte den Überholvorgang notfalls nach einem oder zwei überholten Fahrzeugen beenden können. 
 
3.- a) Nach den aus Art. 4 der im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheides noch in Kraft stehenden Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (aBV) fliessenden, heute in Art. 9 BV verankerten Verfahrensgarantien sind alle Beweise abzunehmen, die sich auf Tatsachen beziehen, die für die Entscheidung erheblich sind (BGE 117 Ia 262 E. 4b; 106 Ia 161 E. 2b; 101 Ia 169 E. 1, zu Art. 4 aBV, je mit Hinweisen). Das hindert aber den Richter nicht, einen Beweisantrag abzulehnen, wenn er in willkürfreier Überzeugung der bereits abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und er überdies in willkürfreier antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise annehmen kann, seine Überzeugung werde auch durch diese nicht mehr geändert (BGE 122 V 157 E. 1d; 19 Ib 492 E. 5b/bb, zu Art. 4 aBV). 
 
b) Der Beschwerdeführer kritisiert unter Berufung auf "in dubio pro reo" ausschliesslich die Beweiswürdigung, nicht die Beweislastverteilung. In der Funktion als Beweiswürdigungsregel geht der Schutz der von Art. 6 Ziff. 2 EMRK garantierten Rechtsregel "in dubio pro reo" nicht über das Willkürverbot von Art. 4 aBV bzw. Art. 9 BV hinaus. Zu prüfen ist daher im Folgenden, ob der Kantonsgerichtsausschuss die Beweise willkürlich zu Lasten des Beschwerdeführers würdigte. 
 
Willkürlich handelt ein Gericht, wenn es seinem Entscheid Tatsachenfeststellungen zugrunde legt, die mit den Akten in klarem Widerspruch stehen. Im Bereich der Beweiswürdigung besitzt der Richter einen weiten Ermessensspielraum. 
Das Bundesgericht greift im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde nur ein, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht oder auf einem offenkundigen Versehen beruht (BGE 124 I 208 E. 4a; 117 Ia 13 E. 2c; 18 E. 3c je mit Hinweisen). 
 
4.- a) Der Beschwerdeführer hält es für willkürlich, dass der Kantonsgerichtsausschuss von einem Überholweg von rund 140 m ausgegangen ist; insbesondere sei die Annahme, er habe beim Überholvorgang 80 km/h nicht überschritten, durch nichts belegt. 
 
Der fragliche Überholvorgang wurde indessen vom Kreisgerichtsausschuss Surses an Ort und Stelle rekonstruiert. 
Der Beschwerdeführer benötigte dabei bei zwei Fahrten unter guten Bedingungen (gute Sicht, trockene und abgesperrte Strasse, optimale Vorbereitung auf Beginn und Beendigung des Überholmanövers) mehr als 140 m, um den Überholvorgang abzuschliessen. Der Beschwerdeführer legt nicht substantiiert dar, inwiefern diese Rekonstruktion nicht geeignet sein sollte, gültige Resultate zu erzielen. Der Kantonsgerichtsausschuss ist daher keineswegs in Willkür verfallen, indem er - nach einer Rundung zu Gunsten des Beschwerdeführers - darauf abstellte. 
 
b) Konnte der Kantonsgerichtsausschuss somit ohne Willkür aufgrund der erhobenen Beweismittel - insbesondere der Rekonstruktion - davon ausgehen, dass der Überholweg (mindestens) 140 m betrug, brauchte er darüber keine weiteren Beweise mehr abzunehmen (oben E. 2a). Er konnte daher insbesondere den Antrag des Beschwerdeführers auf die Einholung eines Gutachtens zur Berechnung des Überholwegs ohne Verfassungsverletzung ablehnen. Da verschiedene der für die mathematisch exakte Berechnung des Überholweges erforderlichen Daten umstritten sind, hätte das Gutachten ohnehin mit Hypothesen arbeiten müssen und wäre daher nicht geeignet gewesen, die Ergebnisse der Rekonstruktion in Frage zu stellen. 
 
c) Der Beschwerdeführer hält es für willkürlich, das Überholmanöver als zusammenhängenden, einheitlichen Vorgang zu beurteilen, da er nie die Absicht gehabt habe, alle drei Fahrzeuge in einem Zug zu überholen und jederzeit in der Lage gewesen wäre, nach einem oder zwei überholten Fahrzeugen einzuschwenken. Der Kantonsgerichtsausschuss hat dazu ausgeführt, der Beschwerdeführer habe die Fahrzeugkolonne mit einer Geschwindigkeitsdifferenz von etwa 50 km/h überholt, mithin in einem Tempo, das es nicht erlaubt hätte, das Überholmanöver ohne Gefährdung der überholten Personenwagen sicher vorzeitig abzubrechen. 
 
Zu Recht bestreitet der Beschwerdeführer nicht, dass es für ein überholendes Fahrzeug umso schwieriger ist, das Überholmanöver vorzeitig abzubrechen und wieder in die Normalspur einzuschwenken, je grösser die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen ihm und den überholten bzw. noch zu überholenden Fahrzeugen ist. Insofern ist es nachvollziehbar, dass der Kantonsgerichtsausschuss aus der von ihm angenommenen Differenz von rund 50 km/h ableitet, der Beschwerdeführer habe weder die Absicht noch die Möglichkeit gehabt, den Überholvorgang vorzeitig abzubrechen, ohne stark abzubremsen und dabei die übrigen Verkehrsteilnehmer zu gefährden. 
Dieser Schluss leuchtet selbst dann ein, wenn man auf das vom Beschwerdeführer eingereichte Privatgutachten X.________ abstellen wollte, wonach die Geschwindigkeit im Moment, als er den zweiten Personenwagen überholt und damit die letzte Möglichkeit gehabt hatte, den Überholvorgang vorzeitig abzubrechen, 74,8 km/h und die Differenz zum Sattelschlepper "nur" rund 45 km/h betrug. 
 
Aus der starken Beschleunigung konnte der Kantonsgerichtsausschuss somit ohne Willkür darauf schliessen, dass der Beschwerdeführer weder die Absicht hatte noch die Möglichkeit gehabt hätte, das Überholmanöver vorzeitig abzubrechen, und dieses dementsprechend als einheitlichen Vorgang beurteilen. Dieser Schluss drängt sich umso mehr auf, als der Beschwerdeführer in der staatsrechtlichen Beschwerde geltend macht, man habe ihm zu Unrecht unterstellt, bloss auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h beschleunigt zu haben, man müsse ihm vielmehr "zu Gute halten", dass er (was er allerdings vor dem Kreisgerichtsausschuss Surses noch vehement bestritten hatte) bis zu 95 km/h gefahren sei: die Behauptung, er habe zunächst nur einen oder allenfalls beide der mit 30 km/h fahrenden Personenwagen überholen wollen, wäre bei diesem noch höheren Tempo vollends unglaubhaft. 
 
5.- Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer dessen Kosten zu tragen (Art. 156 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Kreisamt Surses, der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden und dem Kantonsgericht von Graubünden schriftlich mitgeteilt. 
 
______________ 
Lausanne, 21. Juni 2000 
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Der Präsident: 
 
Der Gerichtsschreiber: