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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1B_452/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 27. Februar 2017  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Kneubühler, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach, 
Wildischachenstrasse 14, 5200 Brugg. 
 
Gegenstand 
Kostenpunkt eines Zwischenentscheides, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 10. Oktober 2016 des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach führt gegen A.________ ein Strafverfahren wegen Raubes, Nötigung und Tätlichkeiten zum Nachteil von B.________. A.________ wurde am 8. Dezember 2015 festgenommen und anschliessend in Untersuchungshaft versetzt. 
Am 4. April 2016 wies das Obergericht des Kantons Aargau eine Beschwerde von A.________ gegen die vom Zwangsmassnahmengericht am 9. März 2016 angeordnete Haftverlängerung ab. 
Am 22. April 2016 teilte die Staatsanwaltschaft A.________ mit, die Untersuchung stehe vor dem Abschluss und forderte ihn auf, Beweisanträge zu stellen, was er am 11. Mai 2016 tat. 
Am 30. Mai 2016 wies das Bundesgericht die Beschwerde von A.________ gegen den Obergerichtsentscheid vom 4. April 2016 ab, soweit es darauf eintrat (Urteil 1B_166/2016). 
Am 13. Juli 2016 beschwerte sich A.________ bei der Staatsanwaltschaft darüber, dass er noch keine Anklageschrift erhalten habe und teilte mit, dass er deren Zustellung bis Ende Juli 2016 erwarte. 
Am 3. August 2016 erhob A.________ beim Obergericht des Kantons Aargau Rechtsverzögerungsbeschwerde mit dem Antrag, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, innert einer kurzen, vom Obergericht festzusetzenden Frist beim zuständigen Gericht Anklage zu erheben. 
Am 29. August 2016 erhob die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht Brugg Anklage gegen A.________ und einen Mitbeschuldigten. 
Am 10. Oktober 2016 schrieb das Obergericht des Kantons Aargau das Beschwerdeverfahren infolge Gegenstandslosigkeit von der Geschäftskontrolle ab und auferlegte die Verfahrenskosten A.________ (Dispositiv-Ziffer 2). 
 
B.   
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 24. November 2016 ficht A.________ diesen Entscheid des Obergerichts im Kostenpunkt an mit dem Antrag, die Kosten des obergerichtlichen Verfahrens auf die Staatskasse zu nehmen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
C.   
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen. A.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das angefochtene Urteil ist ein Entscheid einer letzten kantonalen Instanz (Art. 80 BGG) in einer Strafsache (Art. 78 Abs. 1 BGG). Er schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab. Es handelt sich mithin nicht um einen Endentscheid im Sinn von Art. 90 BGG), sondern um einen Zwischenentscheid, gegen den die Beschwerde in Strafsachen - von hier nicht gegebenen Spezialfällen abgesehen (vgl. Art. 92 BGG) - nur unter einschränkenden Voraussetzungen von Art. 93 BGG zulässig ist. Das Bundesgericht verzichtet allerdings bei Beschwerden wegen Rechtsverweigerung und -verzögerung auf das Erfordernis eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; BGE 138 IV 258 E. 1.1; 134 IV 43 E. 2.2 S. 45). Gegen den angefochtenen, ein Rechtsverzögerungsverfahren betreffenden Entscheid steht damit die Beschwerde offen, und der Beschwerdeführer, der am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat und dem Kosten auferlegt wurden, ist befugt, sie zu erheben (Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG). Auf die Beschwerde ist somit einzutreten. 
 
2.   
Umstritten ist einzig, ob das Obergericht Bundesrecht verletzt hat, indem es die Kosten des gegenstandslos gewordenen Verfahrens dem Beschwerdeführer auferlegte. 
 
2.1. Art. 428 StPO sieht für die Kostentragung im Rechtsmittelverfahren in allgemeiner Weise vor, dass die Parteien die Kosten nach Massgabe ihres Unterliegens zu tragen haben. Eine Regelung für den Fall, dass ein Verfahren gegenstandslos wird, enthält die StPO nicht. Das Obergericht hält dazu fest, dass in Fällen, in denen wie im vorliegenden die Gegenstandslosigkeit nach dem Ergreifen des Rechtsmittels eintritt, "über die Verfahrenskosten mit summarischer Begründung aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrundes zu entscheiden ist. Bei der Beurteilung der Kostenfolgen ist in erster Linie auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen. Bei der Beurteilung des mutmasslichen Verfahrensausgangs geht es jedoch nicht darum, die Prozessaussichten im einzelnen zu prüfen. Vielmehr kann es bei einer knappen, d.h. Prima-facie-Beurteilung der Aktenlage sein Bewenden haben" (E. 3.1 S. 3).  
Dies entspricht im Wesentlichen den Regeln, die das Bundesgericht selber bei gegenstandslos gewordenen Verfahren anwendet (vgl. Art. 71 BGG i.V.m. Art. 72 BZP). Ergänzend greift es auf allgemeine zivilprozessrechtliche Kriterien zurück. Danach wird in erster Linie jene Partei kosten- und entschädigungspflichtig, die das gegenstandslos gewordene Verfahren veranlasst hat oder bei der die Gründe eingetreten sind, die zur Gegenstandslosigkeit geführt haben (vgl. BGE 118 Ia 488 E. 4a S. 494 f.; 2C_45/2009 vom 26. Mai 2009 E. 3.1). 
 
3.  
 
3.1. Am 4. April 2016 wies das Obergericht eine Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts vom 9. März 2016 ab, mit welchem dieses die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer um drei Monate bis zum 8. Juni 2016 verlängert hatte. Zur Frage der Verhältnismässigkeit in zeitlicher Hinsicht erwog es zunächst, dass die Haftdauer bis zum Ablauf der Verlängerung am 8. Juni 2016 rund 6 Monate betragen werde; angesichts der Schwere der Vorwürfe - u.a. Raub im Sinn von Art. 140 Ziff. 1 StGB mit einer Strafdrohung von bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe - drohe keine Überhaft (E. 3.4.1 S. 8). Offen liess das Obergericht (E. 3.4.2.3 S. 9 f.), ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebots vorliege; eine Verzögerung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft, wenn eine solche überhaupt vorliege, sei jedenfalls wenig gravierend und damit von vornherein nicht geeignet, die Rechtmässigkeit der Haft in Frage zu stellen. Es ergäben sich aus den Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass das Verfahren bisher nicht stetig oder bloss mit namhaften Unterbrüchen vorangetrieben worden sei. "Allerdings ist heute ausweislich der verurkundeten Akten ebenso wenig ersichtlich, was einer baldigen Anklageerhebung entgegen stehen könnte, zumal sich die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach in der Beschwerdeantwort nicht zur Rüge des Beschwerdeführers äussert und auch nicht in Aussicht stellt, wie es sich mit der Anklageerhebung in zeitlicher Hinsicht verhält. Im Gesuch um Haftverlängerung vom 3. März 2016 (S. 4) merkte die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach noch an, die polizeilichen Ermittlungen würden sich dem Ende zuneigen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um einen Haftfall handelt, darf deshalb von der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach erwartet werden, sie erhebe nun mit der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen  besonderen Beschleunigung Anklage beim zuständigen Gericht, ohne dafür die hier bestätigte Verlängerung der Untersuchungshaft um drei Monate voll auszuschöpfen."  
 
3.2. Nach diesen Ausführungen des Obergerichts hätte die Staatsanwaltschaft unter dem Vorbehalt nicht voraussehbarer Umstände bis ca. Ende Mai 2016 Anklage erheben müssen, um dem Beschleunigungsgebot Genüge zu tun. Effektiv erfolgte die Anklageerhebung erst drei Monate später, am 29. August 2016, etwa einen Monat nachdem die Rechtsverzögerungsbeschwerde eingereicht worden war.  
Von dieser Beurteilung, die es "in Unkenntnis der weiteren Entwicklung" (angefochtener Entscheid E. 3.4 S. 6) gemacht habe, rückt das Obergericht im angefochtenen Entscheid ab und legt im Detail dar, dass die Staatsanwaltschaft seit dem Haftentscheid des Obergerichts vom 4. April 2016 das Verfahren bis zum 4. Juli 2016 speditiv vorangetrieben habe. In den folgenden 7 Wochen bis zur Erhebung der Anklage am 29. August 2016 seien zwar keine weiteren Verfahrenshandlungen mehr erkennbar; dies sei indessen unter Berücksichtigung des Zeitbedarfs für die Ausarbeitung der Anklage nicht stossend (E. 3.4 S. 5 f.). 
 
3.3. Die Auffassung des Obergerichts im angefochtenen Entscheid, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren speditiv führte, erscheint weitgehend plausibel. Bedenken erweckt allerdings der Zeitbedarf von rund 8 Wochen für die Erstellung der Anklageschrift in einem Haftfall, in dem die Staatsanwaltschaft vom Obergericht ausdrücklich zu einer besonders beförderlichen Verfahrensführung angehalten worden war und in dem die von diesem für die Anklageerhebung angemahnte Frist bereits seit längerem abgelaufen war. Dies beinhaltet im Übrigen keinen persönlichen Vorwurf an die fallführende Staatsanwältin, welche, wie sie nachvollziehbar darlegt, im fraglichen Zeitpunkt mit anderweitigen dringlichen Aufgaben überhäuft war. Unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots spielt es indessen keine entscheidende Rolle, ob die Staatsanwaltschaft nicht willens oder fähig ist, ein Verfahren mit der gebotenen Beförderung zu führen, oder ob sie dazu wegen mangelnder personeller Ressourcen nicht in der Lage ist. Ob das Beschleunigungsgebot verletzt wurde, ist für den Ausgang dieses Verfahrens allerdings nicht erheblich und kann daher offen bleiben.  
 
3.4. Das Obergericht hat in seinem Entscheid vom 4. April 2016 den Zeitbedarf der Staatsanwaltschaft für die Anklageerhebung abgeschätzt und darauf die Erwartung gestützt, dass diese vor Ablauf der Haftfrist (8. Juni 2016) erfolgen werde. Diese Zeitvorgabe wurde in der Folge von der Staatsanwaltschaft nicht eingehalten, ohne dass das Verfahren durch Umstände verzögert worden wäre, die für das Obergericht am 4. April 2016 nicht vorhersehbar waren. Dass der Beschwerdeführer den Haftentscheid des Obergerichts ans Bundesgericht weiterziehen würde und nicht nur er, sondern auch weitere Verfahrensbeteiligte Akteneinsicht nehmen würden und das eine oder andere Fristverlängerungsgesuch bewilligt werden müsste, entspricht dem normalen Lauf eines Strafverfahrens und war dementsprechend für das Obergericht am 4. April 2016 absehbar.  
Gestützt auf diese obergerichtliche Einschätzung des Zeitrahmens, welcher der Staatsanwaltschaft bei der gebotenen beförderlichen Verfahrensführung bis zur Anklageerhebung zustünde, hatte der Beschwerdeführer Anlass zur Einreichung einer Rechtsverzögerungsbeschwerde, nachdem die Anklage gut zwei Monate nach Ablauf der vom Obergericht bestimmten Frist noch nicht erhoben worden war; bei einem Verzicht auf die Einreichung dieses Rechtsmittels hätte sich der Anwalt des Beschwerdeführers allenfalls sogar den Vorwurf unsorgfältiger Mandatsführung gefallen lassen müssen. Dass die Prognose unrealistisch war und vom Obergericht im angefochtenen Entscheid fallengelassen wurde - der Beschwerdeführer spricht mit einer gewissen Berechtigung von einer "Kehrtwende" - ändert nichts daran, dass der Beschwerdeführer sich in guten Treuen auf die obergerichtlichen Erwägungen im Entscheid vom 4. April 2016 stützen und Beschwerde führen durfte. Es ist, wie er zu Recht geltend macht, mit Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) nicht vereinbar, dass ihm das Obergericht im angefochtenen Entscheid die Kosten des gegenstandslos gewordenen Verfahrens auferlegte mit der Begründung, die Staatsanwaltschaft habe das Beschleunigungsgebot nicht verletzt. Die Rüge ist begründet. 
 
4.   
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und Dispositiv-Ziffer 2 des angefochtenen Entscheids aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Hingegen hat der Kanton Aargau dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen und Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheids des Aargauer Obergerichts vom 10. Oktober 2016 aufgehoben. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Aargau hat Rechtsanwalt Franz Hollinger für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. Februar 2017 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi